Wenn Sie wissen möchten, wie es vor rund 17 Jahren überhaupt zu OneNote kam – hier ein alter Blogartikel von Chris Pratley, dem Kopf hinter dem genialen Notizprogramm.
Etwas mehr als drei Jahre, nachdem ihm die erste Idee zu OneNote gekommen war, hat Chris Pratley, damals noch ein Produktmanager für Microsoft Office, in seinem Blog über die Anfänge geplaudert.
Chris, heute immer noch bei Microsoft und unter anderem für die Foto-App von Windows 10 zuständig, hat mir freundlicherweise erlaubt, den kompletten Originalartikel zu übersetzen und hier zu veröffentlichen:
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OneNote begann mit einem E-Mail-Austausch zwischen mir und Steven Sinofsky, Senior VP für MS Office am 27. November 2000. Wir sprachen darüber, dass es kaum Software gab, die mit Informationen umgehen konnte, die noch kein Dokument waren. Zu dieser Zeit war die Entwicklung von Office XP gerade abgeschlossen. Kurz zuvor war ich mitten in der Entwicklungsphase Group Program Manager für Word geworden. Der Entwicklungszyklus von Office XP hat mich ein wenig beunruhigt. Ich hatte das Gefühl, wir hätten nicht genug erreicht, um Anwenderprobleme mit Word zu lösen – zumindest teilweise, weil sich unsere Gedanken schlicht darum drehten, wie wir eine Textverarbeitung verbessern können.
Steve beschrieb ein paar Gedanken, die er sich zu „kurzlebigen Informationen“ gemacht hatte und Ideen zum „Outlining“ (Anm. des Übersetzers: Im Sinne von Strukturieren, Skizzieren, Gliedern). Gerade Outlining turnt mich aber eher ab, weil es eins der Dinge ist, zu denen Leute sich selbst oft nicht aufraffen können. Diejenigen, die es nutzen hingegen, schwärmen davon. Es ist ein klassisches Nischenthema. Aber grundsätzlich mochte ich Steves Idee, wir könnten eine komplett neue Anwendung schreiben anstelle neue Dinge in die vorhandenen zu quetschen.
Ich dachte weiter darüber nach, wie sich die Arbeit für faule und unstrukturierte Leute wie mich dramatisch vereinfachen ließe, gleichzeitig aber auch für organisierte Menschen wie Outline-Anhänger und Nutzer von Ablagesystemen. Langsam entstand in mir die Idee von einem Werkzeug, das mich die enorme Menge an Zeug, das mir Leute in Meetings oder am Telefon erzählen, das ich gelesen hatte oder das mir sonst irgendwie in den Sinn kam, managen ließe.
Ich dachte darüber nach, wie sich die Arbeit für faule und unstrukturierte Leute wie mich dramatisch vereinfachen ließe.
Das meiste davon landet zwar ohnehin im Abfall, vieles ist aber auch wirklich wertvoll und so viel geht verloren, weil die einzigen Hilfsmittel, die ich habe mein Gedächtnis (meist versagend) und Papier sind. Letzteres verliere oder verlege ich ziemlich schnell. Jüngst habe ich mein Büro aufgeräumt und fand vier einzelne Papiernotizbücher, jedes gefüllt mit gerade mal drei Seiten an Notizen. Soweit bin ich mit jedem gekommen, bis ich es verlegt hatte.
In den Weihnachtsferien 2000-2001 habe ich mich weiter mit dem Gedanken befasst (nicht sehr intensiv, mehr so einsickernd). Im Januar entstand dann ein rudimentäres „Visionsdokument“, das ein neues Tool beschrieb, das mein tägliches Arbeitsleben viel effektiver machen könnte. Natürlich war es nicht nur für den Job bestimmt – es würde für alle möglichen Einsatzbereiche nützlich sein. Bricht man „Arbeit“ in seine einzelnen Komponenten herunter, zeigen sich Privatleben, Beruf, Schul- und Studienbereich ziemlich ähnlich: Dinge, die zu tun sind, wichtiges, an das man sich erinnern muss, Informationen, die nachzuschlagen oder zu recherchieren sind und viel Zeug, von dem man glaubt, es könnte vielleicht eines Tages wichtig sein. Ganz zu schweigen von Telefonnummern, Passwörtern, „frequent flyer“-Nummern, Namen und Adressen, Links, und, und, und… Dinge, die jeder Kategorisierung trotzen (oder auch nicht).
Die wichtigste Einsicht, die ich zu dem Zeitpunkt hatte, war: Was auch immer dieses Tool war, es musste einem erlauben, einen Gedanken oder ein Stück Information festzuhalten, ohne dass man sich mit dem üblichen Software-UI-Gedöns aufhalten musste. Um zum Beispiel in Outlook eine Information festzuhalten, musste man zuerst den Ort finden, an dem man Notizen machen kann. Aber wenn es sich um eine Telefonnummer handelte, musste man zu den Kontakten gehen – zuvor aber einen neuen Kontakt anlegen, benennen und dann erst konnte man die Telefonnummer aufschreiben. Post-it-Zettel schlugen diese Methode bei weitem. Dieses neue Tool – ich nannte es „Scribbler“ – sollte so dicht an elektronischem Notizpaper sein wie möglich. Gleichzeitig sollte es dem Papier aber weit überlegen sein, wenn es darum ging, mit den festgehaltenen Informationen umzugehen.
Ungefähr zur selben Zeit ging es langsam mit den Tablet PCs los und das sah interessant aus. Es ist immer eine gute Sache, wenn Synergien entstehen. Eine neue Hardwareklasse, die einem ähnlichen Zweck diente wie die Software, die ich schreiben wollte, könnte nur hilfreich sein. Realistisch gesehen würde es aber Jahre dauern, bis Tablets die vorhandenen PCs überholten, selbst wenn sie von Anfang an ein Renner wären (Anm. des. Übersetzers: Der Beitrag ist von 2004, also noch Jahre vor iPad & Co.). So entschied ich, Scribbler zunächst für Desktop-PCs zu konzipieren, aber so, dass es auch auf Tablets glänzen kann, wenn man all die Power eines Laptops plus Stifteingabe hätte. So mussten wir in erster Linie eine gut mit Tastaturen funktionierende Notiz-App bauen.
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Soweit der Originalartikel von Chris Pratley. In seinem Blog-Archiv finden sich für „OneNote-historisch“ interessierte übrigens noch viele weitere interessante Beiträge, etwa zu den ersten OneNote-Feldtests oder dem Dasein als Product Manager bei Microsoft.